Darf der Staat Stille verordnen? Ausgerechnet eine evangelische Pastorin bringt Bewegung in eine alte Debatte. Ina Jäckel, Theologin, NDR-Moderatorin ("Dingenskirchen") und auf Instagram mit mehr als 30.000 Followern präsent, stellt das Tanzverbot an Karfreitag nicht komplett in Frage – aber die Art, wie es durchgesetzt wird. Ihr Kernargument: Weniger Zwang, mehr Einladung. Sie will die Bedeutung des Tages bewahren, ohne ihn mit juristischen Klammern zu fixieren.
Jäckel sagt es klar: Karfreitag ist für viele Christinnen und Christen ein Tag der Trauer, des Innehaltens, der Erinnerung an die Kreuzigung. Gleichzeitig erlebt sie, dass immer weniger Menschen diesen religiösen Rahmen aktiv leben. Für manche ist es schlicht ein freier Tag – und damit verbunden der Wunsch nach Musik, Begegnung, vielleicht auch Tanz. Statt mit Vorschriften zu reagieren, setzt sie auf Gespräch, Aufklärung, Offenheit. Respekt, so ihr Punkt, entsteht im direkten Miteinander – nicht im Gesetzestext.
Genau da liegt der Konflikt. In Deutschland regeln Feiertagsgesetze der Länder, was an sogenannten "stillen Tagen" erlaubt ist und was nicht. Karfreitag steht dabei an oberster Stelle. Üblich sind Verbote für Tanzevents, aber auch Einschränkungen für Sportwettkämpfe, Zirkusse, öffentliche Glücksspiele und Filmvorführungen, die als "feiertagsnicht geeignet" gelten. Wer dagegen verstößt, riskiert Bußgelder. Diese Regeln sollen die religiöse Prägung des Tages schützen – in einer Gesellschaft, die deutlich vielfältiger geworden ist.
Wie sensibel das Thema ist, zeigte ein Fall aus Göttingen im Frühjahr 2024. Ein Club ließ in die Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag hinein tanzen – trotz vorherigem Hinweis auf das Verbot. Rund 90 Gäste waren auf der Tanzfläche, bis der städtische Ordnungsdienst die Musik stoppte. Ergebnis: 1.700 Euro wurden fällig, davon 1.200 Euro als Abschöpfung des Gewinns und 500 Euro als Strafe. Aus Sicht der Stadt: ein klarer, notwendiger Eingriff. Aus Sicht des Betreibers: ein Eingriff in die Freiheit – und in die Kasse.
Juristisch ist die Lage zuletzt bekräftigt worden. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe erklärte eine Vorlage des Amtsgerichts Göttingen für unzulässig. Die Richterinnen und Richter ließen damit die Linie stehen: Die Länder dürfen Tanzverbote an Gründonnerstag und Karfreitag vorsehen. Negative Religionsfreiheit – also die Freiheit, von religiösen Normen verschont zu bleiben – und Berufsfreiheit von Clubbetreibern werden dadurch nicht per se unzulässig eingeschränkt. Entscheidend sei, so die Karlsruher Linie seit Jahren, dass Regeln verhältnismäßig bleiben und Ausnahmen möglich sind.
Der verfassungsrechtliche Anker liegt in einer oft übersehenen Brücke zwischen Alt und Neu: Artikel 140 Grundgesetz übernimmt unter anderem Artikel 139 der Weimarer Reichsverfassung. Darin steht, vereinfacht gesagt: Sonn- und Feiertage bleiben als Tage der "Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung" geschützt. Aus diesem Schutzauftrag leiten die Länder ihre Feiertagsgesetze ab – inklusive des besonderen Schutzes für Karfreitag als "stillen Feiertag".
Wer glaubt, damit sei alles geklärt, irrt. Karlsruhe hat 2016 schon einmal deutlich gemacht: Ein pauschales Totalverbot ohne sinnvolle Ausnahmen ist zu hart. Damals ging es um säkulare Veranstaltungen am Karfreitag in München, die aus weltanschaulichen Gründen stattfinden sollten. Die Botschaft der Richter: Der Staat darf Stille schützen, muss aber zugleich Weltanschauungsfreiheit ernst nehmen. Behörden brauchen Ermessensspielräume für Sondergenehmigungen – zum Beispiel, wenn die Veranstaltung selbst Ausdruck einer Weltanschauung ist.
Wie streng es im Alltag zugeht, variiert zwischen den Ländern. Bayern hält traditionell viel unter Verschluss, Berlin oder Bremen sind bei den Zeiten und Ausnahmen oft großzügiger. In einigen Ländern gelten Zeitfenster, in denen strengere Regeln erst am Nachmittag oder Abend einsetzen. Mancherorts gibt es Listen mit Filmen, die als "feiertagsfrei" gelten, andere arbeiten mit allgemeinen Kriterien. Überall gleich ist: Es bleibt kompliziert, und Clubs, Kinos oder Veranstalter müssen jedes Jahr neu planen, beantragen, begründen.
Die Kirchen halten dagegen, dass Karfreitag eben nicht irgendein Feiertag ist. Die hannoversche Regionalbischöfin Petra Bahr nennt ihn einen Tag, der an die Todesstunde Jesu erinnert – kein Ritual der Stille um der Stille willen, sondern eine Unterbrechung, die zum Hinschauen zwingt, dorthin, wo es wehtut. In einer Welt voller Leid, sagt sie, braucht es diese Zumutung. Viele in den Gemeinden sehen das genauso: Es gibt Gottesdienste, Passionsmusik, Andachten, oft spürbar stiller als an anderen Tagen.
Aus säkularer Perspektive wirkt das wie eine staatlich gestützte Sonderbehandlung von Religion. Assunta Tammelleo vom religionskritischen Verein in München plädiert deshalb für die Abschaffung von Tanzverboten. Ihr Punkt: Für Nichtreligiöse ist das unzumutbar. Wenn religiös begründete Moralvorstellungen in Gesetze für alle gegossen werden, gerät die Demokratie in Schieflage. Das klingt hart – trifft aber einen Nerv in einer Gesellschaft, in der die großen Kirchen Mitglieder verlieren und die religiöse Bindung schwächer wird.
Spannend: Die öffentliche Meinung ist nicht so eindeutig, wie die Lager wirken. In einer YouGov-Umfrage von 2017 sprach sich eine knappe Mehrheit für das Tanzverbot an Karfreitag aus. Gleichzeitig zeigen neuere Trends in anderen Befragungen und in der Kirchenstatistik: Die kulturelle Selbstverständlichkeit christlicher Feiertage nimmt ab. Viele schätzen freie Tage, aber nicht alle teilen den religiösen Gehalt. Genau hier setzt Jäckel an. Sie will nicht abschaffen, sondern erklären – und so aus Pflicht Einsicht machen.
Wie könnte das aussehen? Jäckel argumentiert, dass Einladung mehr bewirkt als Kontrolle. Kirchen könnten am Karfreitag Räume öffnen, in denen Menschen das Schweigen erleben, ohne sich bevormundet zu fühlen: Musik der Passionszeit, stille Orte, Gesprächsangebote, Kunst, die Leid und Trost verhandelt. Kommunen könnten das unterstützen, indem sie nicht nur verbieten, sondern auch informieren: Was bedeutet Karfreitag? Warum ist der Tag besonders? Wer das versteht, verhält sich eher rücksichtsvoll – ganz ohne Bußgeldandrohung.
Der Blick in die Praxis zeigt, dass Veranstalter ohnehin mit viel Fingerspitzengefühl arbeiten. Clubs reagieren mit Sonderpausen, leisen Formaten, Lesungen oder geschlossenen Privatveranstaltungen, die nicht öffentlich beworben werden. Kinos prüfen Programme doppelt. Sportvereine verlegen Wettkämpfe. Die meisten wollen Ärger vermeiden – schon aus wirtschaftlichen Gründen. Gleichzeitig sind die Grenzen oft schwer zu greifen: Wie laut ist zu laut? Wann wird aus einem Konzert eine verbotene "Unterhaltung"? Und wie unterscheiden Behörden fair, wenn Anträge auf Ausnahme eingehen?
Genau deshalb fordern Juristen seit Jahren mehr Klarheit. Es brauche konkrete Kriterien für Ausnahmen, transparente Verfahren und plausibel begründete Zeitfenster. Wenn Behörden nachvollziehbar entscheiden, sinkt die Zahl der Konflikte. Ein Ansatz aus der Verwaltungspraxis: den Fokus stärker auf Rücksicht statt auf Art der Veranstaltung legen. Was stört die öffentliche Ruhe tatsächlich? Was bleibt in einem tolerierbaren Rahmen? Mit solchen Leitplanken lassen sich Freiräume schaffen, ohne den Charakter des Tages auszuhöhlen.
Und die Nachbarschaft? Für viele, die dem Karfreitag keinen religiösen Sinn geben, ist es am Ende ein Thema des Zusammenlebens. Eine laute Party im Wohngebiet fühlt sich anders an als ein Konzert in einer gut gedämmten Halle. Wer am Feiertag arbeiten muss – im Krankenhaus, im Rettungsdienst, in der Pflege –, blickt ohnehin anders auf "Stille" als jemand, der den Tag zu Hause verbringt. Regeln, die diese Unterschiede berücksichtigen, wirken gerechter. Es geht also auch um Lärmschutz, um Öffnungszeiten, um Rücksicht zwischen Tür und Angel.
Noch ein Punkt: Die digitale Öffentlichkeit hat die Dynamik verschärft. Ein Video vom Einsatz des Ordnungsamts geht schneller viral, als ein Bußgeldbescheid geschrieben ist. So entstehen Fronten, die den tatsächlichen Spielraum überdecken. Jäckels Ton ist deshalb auffällig nüchtern. Keine Empörung, kein Kulturkampf. Eher die Einladung, den Karfreitag als Angebot zu begreifen: Wer die Geschichte versteht, findet vielleicht aus freien Stücken zur Stille. Wer das nicht will, muss nicht zwangsläufig per Gesetz geschoben werden – solange er andere nicht stört.
Die Politik steht damit vor einer vertrauten Aufgabe: Zwischen Schutzauftrag und Freiheitsrechten den Kurs zu halten. Es spricht vieles dafür, dass die Länderregelungen bleiben – Karlsruhe hat die Leitplanken gesetzt. Innerhalb dieser Leitplanken lässt sich einiges bewegen: besser kommunizierte Ausnahmen, klarere Kriterien, lokale Absprachen, die Konflikte entschärfen. Kirchen können ihre Türen öffnen und erklären, was der Tag ihnen bedeutet. Säkularen Gruppen kann man Raum lassen, ihre Weltsicht zu zeigen – ohne die Stille zu brechen. Und Clubs? Deren Geschäftsmodell hängt nicht an einer Nacht. Planungssicherheit hilft ihnen mehr als ein graues Verbot, das mal streng, mal locker vollzogen wird.
Am Ende bündelt Ina Jäckel das, was viele denken, die weder Verbotsfreunde noch Bereichungsgegner sind: Karfreitag soll bleiben, was er ist – ein Tag, der anders klingt als die übrigen 364. Aber der Weg dorthin führt nicht allein über Paragrafen. Er führt über Verständlichkeit, über Respekt und über die Bereitschaft, die eigene Blase zu verlassen. Dafür muss niemand seine Überzeugung aufgeben. Es reicht, wenn alle einen Schritt aufeinander zugehen – und der Staat so viel regelt, wie nötig, und so wenig, wie möglich.
Zur Einordnung, was die Feiertagsgesetze typischerweise regeln:
Das Bundesverfassungsgericht hat die Länder jüngst in ihrer grundsätzlichen Linie bestätigt. Gleichzeitig bleibt die Pflicht, verhältnismäßig zu handeln und Ausnahmen ernsthaft zu prüfen. Die Praxis wird dadurch nicht einfacher, aber fairer: Wer plausibel begründet und Rücksicht in den Mittelpunkt stellt, bekommt eher grünes Licht. Wer stur auf Krawall setzt, muss mit Sanktionen rechnen – wie der Fall aus Göttingen zeigt.
Zwischen Tradition und individueller Freiheit entsteht so ein beweglicher Korridor. Genau dort positioniert sich Jäckel: mit einem Plädoyer für Einladung statt Einschüchterung. Und mit dem Angebot, religiöse Sinnstiftung erlebbar zu machen – nicht als Pflicht, sondern als Chance. Ob das reicht, um den gesellschaftlichen Frieden am Karfreitag zu sichern? Es ist zumindest ein Weg, der weniger trennt, als er verbindet.
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